Der Mieterverein will für den dringend benötigten Wohnungsbau eine Flächendiskussion im Stuttgarter Gemeinderat und in der Zivilgesellschaft anstoßen

Der Wohnungsmarkt hat sich im letzten Jahrzehnt grundlegend verändert und die Kenntnisnahme der wohnungspolitisch relevanten Fakten sollte bei der Flächenbereitstellung zu neuen Einsichten führen

Auch die Beschränkung auf die Innenentwicklung hat die Wohnungsneubauzahlen im letzten Jahrzehnt mit durchschnittlich 1.500 WE/Jahr weit hinter dem allein durch Zuwanderung benötigten Wohnungsbedarf zurückliegen lassen. Selbst das von OB Kuhn viel zu niedrige und nur politisch begründete Wohnbauziel von 1.800 zusätzlichen Wohnungen pro Jahr wurde nicht erreicht. Der Mieterverein fordert deshalb, dass Verwaltung, Gemeinderat und Stadtgesellschaft die Realitäten am Wohnungsmarkt zur Kenntnis nehmen müssen, insbesondere die erhebliche Zunahme an Arbeitsplätzen in Stuttgart (+72.400 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in 8 Jahren!) und die damit einher gehende Zuwanderung (+48.000 EW in 8 Jahren).

Wie dramatisch sich die Schere zwischen Einwohnerzuwachs und Wohnungszuwachs im zweiten Jahrzehnt gegenüber dem ersten Jahrzehnt geöffnet hat, zeigen beiliegende wohnungsmarktrelevante Daten der letzten beiden Jahrzehnte, welche sich auf die Zahlen des „Statistischen Jahrbuchs 2018/2019“ von Stuttgart stützen.

Während im ersten Jahrzehnt der Wohnungszuwachs noch den Einwohnerzuwachs deutlich überstieg, hat sich diese Entwicklung im zweiten Jahrzehnt drastisch ins Gegenteil verkehrt. Die für die Wohnungsnachfrage wichtigen Haushaltszahlen erhöhten sich bis 2018 um 28.000. Dem gegenüber stand ein Wohnungszuwachs von nur 12.000 WE. Damit hat sich seit 2010 der Wohnungsfehlbestand allein durch Zuwanderung um 16.000 WE erhöht. Bereits im Jahr 2012 bezifferte eine Pestel-Studie den Wohnungsfehlbestand in Stuttgart auf 8.000 WE. Er hat in den letzten 8 Jahren wegen unzureichender Fertigstellungen im Wohnungsbau auf aktuell 25.000 fehlende Wohnungen zugenommen.

Treiber für die Einwohnerentwicklung war insbesondere der Zuwachs von 72.400 sozialversicherungspflichtigen neuen Arbeitsplätzen in Stuttgart. Wie in den Vorjahren fand aber die Mehrheit der neuen Beschäftigten (43.300) nur im Umland eine Wohnung.

Im ersten Jahrzehnt stiegen die Baulandpreise für mittlere Lagen in Stuttgart nur um 3,7 Prozent. Noch 2010 gingen städtische Prognoserechnungen von stagnierender Einwohnerzahl aus, was auch dazu führte, dass 2010 größere Baugebiete (z. B. das Birkacher Feld mit ca. 65 Hektar) aus der Planung herausgenommen wurden.

Die gute wirtschaftliche Entwicklung in Stuttgart und der damit verbundene Einwohnerzuwachs haben die Wohnungsnachfrage und die Nachfrage nach Bauland dramatisch erhöht. Der Mangel an Bauland hat nicht nur den Wohnungsmangel mitverursacht, sondern auch zu extremen Preissteigerungen beim Bauland beigetragen: in den mittleren Lagen von Stuttgart explodierten die Preise von 2010 bis 2018 um 113 Prozent, in bevorzugten Lagen sogar um 137 Prozent und machten den Wohnungsbau noch teurer.

Laut der städtischen Bürgerumfrage waren die hohen Stuttgarter Mieten schon im Jahr 2010 das Problem Nummer eins. Seitdem stiegen die Bestandsmieten (Mietspiegel) in Stuttgart um 30 Prozent, die Angebotsmieten sogar um über 50 Prozent.

„Es ist eine elementare Frage sozialer Gerechtigkeit, ob unsere Stadtgesellschaft in der Lage ist, für alle Einkommenslagen Wohnraum zur Verfügung zu stellen oder eben nicht“, erklärte OB Fritz Kuhn im Gemeinderat zu Beginn seiner Amtszeit im Mai 2013. Heute lässt sich feststellen, dass die städtische Wohnungspolitik dieser Zielsetzung nicht gerecht geworden ist. Allein die städtische Vormerk- und Notfalldatei ist seitdem von 3.287 Haushalten auf zurzeit 4.600 wohnungssuchende Haushalte angestiegen. Der Bestand an Sozialmietwohnungen in Stuttgart hat seit 2012 von 15.949 auf 14.411 WE abgenommen. Für Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen ist es nahezu unmöglich auf dem freien Markt in Stuttgart eine Wohnung zu finden.

Verwaltung und Gemeinderatsmehrheit verharren leider weiterhin beim völlig unzureichenden Neubauziel von 1.800 Wohneinheiten, welches zu Beginn dieses Jahrzehnts unter der Prognose stagnierender Einwohnerzahlen aufgestellt wurde. Mit dem Festhalten an politischen Konzepten, die in Jahren ausgeglichenerer Wohnungsmärkte entwickelt wurden, löst die Stadt nicht die Wohnungsprobleme des letzten Jahrzehnts und von heute, lässt sich auch nicht „Wohnraum für alle Einkommenslagen zur Verfügung stellen“.

Es bedarf deshalb dringend einer neuen Diskussion in Stadtgesellschaft und Gemeinderat über Wohnbaukonzepte, welche der wirtschaftlichen Entwicklung von Stuttgart und der Versorgung ihrer Einwohner mit bezahlbarem Wohnraum gerecht werden. Lösungsansätze hierfür bieten sich an, sowohl in der Außenentwicklung einer größeren Fläche, wie in Freiburg, als auch in der Konversion von hoffentlich bald freiwerdenden Militärflächen der US-Streitkräfte.  Zu dieser notwendigen Diskussion will der Mieterverein Stuttgart anregen. Er hat deshalb mit einem Brief Mitte August vom Baubürgermeister und von den Fraktionen des Gemeinderats mehr Problembewusstsein und mehr Offenheit für Problemlösungen gefordert.


Anlage:

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