Ist die neue Bevölkerungsvorausberechnung der Stadt Stuttgart eine Prognose für wirtschaftlichen Abstieg?

Mieterverein hält Zuwachs von nur 9.430 Einwohnern in 15 Jahren für unrealistisch

Die kürzlich veröffentlichte neue Bevölkerungsvorausberechnung bis 2040 der Stadt Stuttgart (Statistisches Monatsheft 09/24) stößt auf heftige Kritik des Mietervereins.

Gemäß deren „mittlerer Vorausberechnungsvariante“ werde Stuttgart in 15 Jahren nur 9.430 Einwohner mehr haben als heute. Im Jahr 2023 hatte Stuttgart 610.069 Einwohner. 9.430 Einwohner entsprächen einer Zunahme von nur 1,5 Prozent. Damit weicht die Prognose stark von der bisherigen Einwohnerentwicklung ab: Zwischen 2011 und 2022 erhöhte sich Stuttgarts Bevölkerung in nur 11 Jahren (trotz zwei Corona-Jahren) von 573.000 Einwohnern um 37.000 auf 610.000 Einwohner (Statist. Jahrbuch 2022/23, S. 51).

Die Vorausberechnung der Stuttgarter Statistiker steht auch in starkem Kontrast zu den Prognosen anderer deutscher Großstädte. So erwarten im gleichen Zeitraum Düsseldorf eine Zunahme um 60.000, Frankfurt um 150.000, München um 200.000 und Berlin um 460.000 Einwohner.

Zentrale Kritik des Mietervereins an der städtischen Vorausberechnung ist, dass sie vergangene und zukünftige Entwicklungen am Arbeitsmarkt weitgehend vernachlässigt. So stieg die Anzahl der Erwerbstätigen in Stuttgart von 2010 bis 2021 um ca. 60.000 auf 533.000 (Stat. Jahrbuch Stuttgart 2022/23, S. 102).

Zwar werden angesichts der Umbrüche in der Automobilindustrie solch große Zuwächse in naher Zukunft nicht zu erwarten sein. Doch auch in Stuttgart werden in den nächsten 15 Jahren die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen und diese Arbeitskräfte zu ersetzen sein. Laut Statistischem Bundesamt werden in den nächsten 15 Jahren bundesweit fast 13 Millionen Erwerbstätige das Rentenalter erreichen, und davon können nur 67 Prozent durch hier wohnende Menschen ersetzt werden. Während die neuen Rentner mehrheitlich in ihren Wohnungen weiter wohnen werden, wird ein Drittel der zu ersetzenden Arbeitskräfte durch Anwerbung und Zuzug von außen ersetzt werden müssen. Rechnerisch bedeutet allein dieser Ersatz für den Wirtschaftsstandort Stuttgart mindestens 30.000 zusätzlich zu gewinnende Erwerbstätige bis 2040, die auch in Stuttgart wohnen sollten.

„Wenn dagegen Statistiker im Zeitraum von 17 Jahren nur einen Zuwachs von 9.430 Einwohnern erwarten, dann beinhaltet ihre Prognose einen rasanten wirtschaftlichen Abstieg der Landeshauptstadt“, warnt der Mieterverein Stuttgart in einem Brandbrief an Oberbürgermeister Nopper und die Fraktionsvorsitzenden im Stuttgarter Gemeinderat. Die Verantwortlichen für die Stadt sollten sich umgehend der Frage stellen, wie angesichts der demografischen Entwicklung die Wirtschaftskraft der Landeshauptstadt erhalten werden kann. Dazu gehöre insbesondere ein Bemühen um mehr bezahlbaren Wohnungsbau in Stuttgart.

Dass sich die Schere zwischen Einwohnerzuwachs und Wohnungszuwachs im zweiten Jahrzehnt gegenüber dem ersten Jahrzehnt noch weiter geöffnet hat, zeigen die wohnungsmarktrelevanten Daten des letzten Jahrzehnts (Statistisches Jahrbuch von Stuttgart). So stieg die für die Wohnungsnachfrage relevante Zahl der Haushalte von 2010 bis 2022 um 24.000. Demgegenüber entstanden im gleichen Zeitraum netto nur ca. 18.000 Wohnungen. Der bereits im Jahr 2010 bestehende extreme Wohnungsmangel in Stuttgart vergrößerte sich damit um weitere 6.000 fehlende Wohnungen.

Zwar untersucht die neue Vorausberechnung der Stadt auch die Wirkung von zukünftigem Neubau auf die verschiedenen Stadtquartiere, sie vernachlässigt aber die bremsende Wirkung von zu geringem Neubau auf das Zuzugsverhalten in der Gesamtstadt. Dabei ist offensichtlich, dass Menschen nicht nach Stuttgart ziehen können, wenn es keine verfügbaren Wohnungen gibt. Dies bestätigt auch PwC in einer Befragung Ende 2024, wonach 76 Prozent der Arbeitnehmer ein neues Jobangebot in einer Stadt nicht annehmen wollen, wenn die Miete am Standort des neuen Arbeitsplatzes viel höher ist.

Schon die erhebliche Zunahme an Arbeitsplätzen von 2010 bis 2022 hatte in Stuttgart aus Wohnungsmangel eine neue Wohnungsnot entstehen lassen. Damit einher ging im gleichen Zeitraum eine Zunahme der Verkehrsbelastung durch den Zuwachs von 60.000 Einpendlern. Denn viele neue Beschäftigte konnten nur im Umland eine Wohnung finden.

Der Mieterverein warnt sie als Verantwortliche für diese Stadt davor, im Vertrauen auf eine problematische Bevölkerungsprognose und angesichts extrem niedriger Wohnungsbauzahlen beim Bemühen um den Bau bezahlbarer Wohnungen die Hände in den Schoß zu legen. Schon seit Jahren hält Stuttgart unter den deutschen Großstädten im Wohnungsneubau die rote Laterne.

„Falsche Annahmen und Schlussfolgerungen hinsichtlich der Einwohnerentwicklung können für die wirtschaftliche Entwicklung und den Wohlstand in der Landeshauptstadt äußerst gefährlich werden. Statt wirtschaftlichen Abstieg hinzunehmen, bitten wir Sie dringend, eine Vision für Stuttgart mit einer Wachstumsperspektive für Wirtschaft und Wohnen zu entwickeln und eine realistische Einwohnervorausberechnung zu erstellen“, stellt der Mieterverein fest.

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