Mieterverein fordert: Kein „Weiter so“

Bei der Jahreshauptversammlung kritisiert der Vorsitzende Rolf Gaßmann die Politik der Stadt als völlig unzureichend, weil sie den Bedarf an bezahlbarem Wohnraum unterschätze. OB Frank Nopper geht dennoch weiter von 1800 Neubauwohnungen pro Jahr aus.

Der Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) ist bei der Jahreshauptversammlung des Mietervereins Stuttgart am Freitag, 20.05.2022, im Haus der Wirtschaft aufgefordert worden, sich mit dem Gemeinderat viel stärker als bisher für die Schaffung bezahlbaren Wohnraums einzusetzen. Grundvoraussetzung dafür sei allerdings, die Realität anzuerkennen und wie andere Großstädte von einer dynamischen Bevölkerungsentwicklung in den nächsten Jahren auszugehen und nicht nur mit einem Prozent Wachstum zu rechnen, sagte Rolf Gaßmann (71) in seiner Rede. Der Mietervereinsvorsitzende, im 40. Jahr Mitglied, verwies auf das aus seiner Sicht mittlerweile auf 20 000 Wohnungen angewachsene Defizit, das mit dem bisherigen städtischen Wunsch von 1800 Einheiten im Jahr nicht zu beseitigen gewesen sei – und schon gar nicht mit den nur rund 1300, mit denen sich Verwaltung und Gemeinderat letztlich zufrieden geben. Damit trage die Landeshauptstadt in Deutschland die „rote Laterne“.

Gaßmann verwies auf das von der neuen Bundesregierung ausgegebene Ziel von 400 000 Wohnungen in den nächsten vier Jahren, davon ein Viertel öffentlich geförderte. Für Stuttgart würde das 3000 neue Einheiten jährlich bedeuten, davon 750 Sozialwohnungen. Der Plan „Weiter so“ werde die Wohnungsnot verschlimmern, sagte Gaßmann an die Adresse des OB. Der Fehlbestand wachse auf 30 000 Einheiten.

Dessen Verweis auf eine erfolgreiche Arbeit der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft SWSG reichte Gaßmann nicht aus: „Sie wird die Wohnungsnot allein nicht mindern oder verhindern. Es braucht einen Plan, wie Wirtschaftswachstum und Wohnungen im Einklang wachsen. Den sehen wir als Mieterverein derzeit nicht.“

Frank Nopper, immerhin das erste Stadtoberhaupt nach Manfred Rommel, das überhaupt an einer Mietervereinsversammlung teilnahm, sagte, hohe Mieten in Kombination mit zu wenigen bezahlbaren Wohnungen seien „zur sozialen Frage geworden“. Als Preistreiber sieht er den starken Anstieg von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten, die Niedrigzinspolitik und die Inflation. Deshalb werde die SWSG „noch kraftvoller“ handeln und bis 2030 rund 3000 Wohnungen bauen. Sie setze auf bezahlbare Mieten, bleibe 20 Prozent unter der durchschnittlichen Mietspiegelmiete von 10,34 Euro und entlaste Schwellenhaushalte finanziell – allerdings erst nachdem sie Wohngeld beantragt haben, was viele als Hemmnis betrachten.

Diese Würdigung stieß im Plenum auf Widerspruch. Ein Mitglied zitierte aus der Vereinszeitschrift den Satz, die SWSG sei die teuerste kommunale Wohnungsbaugesellschaft überhaupt. Die von Nopper unerwähnt gelassene, höchst umstrittene Mieterhöhung von sechs Prozent für die nächsten drei Jahre „passt einfach nicht in die Zeit“. Wer solle eine Warmmiete von 10,75 Euro noch bezahlen können?

Noppers Prognose von 1800 neuen Wohnungen jährlich unterscheidet sich deutlich von jener des Mietervereins. Der OB setzt auf Nachverdichtung, die Umwandlung eventuell frei werdender Büroflächen und eine „moderate Arrondierung“ von Flächen am grünen Stadtrand nach einem erfolgreichen Bürgerbegehren. In seinem Grußwort und anschließend auf seinem Facebook-Account pries er die – allerdings vom öko-sozialen Bündnis geforderte und durchgesetzte – neue Bodenpolitik der Stadt, die verstärkt Grundstückskäufe vorsieht und die Vergabe eigener Flächen nur noch unter Bedingungen, die private Investoren kaum erfüllen können. Nopper verwies zudem auf die Flächen durch das von ihm hochgelobte Projekt Stuttgart 21 hinterm Bahnhof – allerdings wird die Zahl der dort geplanten Wohnungen ständig nach unten korrigiert. Statt 7500 seien es jetzt nur noch 4500, so Gaßmann, der sich von der Stadt nicht nur mehr Engagement beim Wohnungsbau, sondern auch bei der Bekämpfung von Mietwucher wünscht.

OB Nopper sagte dem Vorsitzenden zu, die Idee „zu prüfen“, Onlineprotale nach überhöhten Mietpreisangeboten zu durchforsten und an ertappte Vermieter „blaue Briefe“ zu versenden. Für die Stadt Freiburg ist dafür ein Start-up-Unternehmen erfolgreich tätig. Dafür stehe kein Geld zur Verfügung, hat die Stadtverwaltung allerdings auf Nachfrage unserer Zeitung klargestellt.

Von Jörg Nauke
Stuttgarter Zeitung

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